There is no hinterland

von Kaspar Surber

Nach dem Kabarettstück «Louverture stirbt 1803» geht Hans Fässler in einem Buch der Beteiligung der Schweiz am transatlantischen Sklavenhandel nach. «Reise in schwarz-weiss», das Mitte Oktober erscheint, zeichnet darüber hinaus auch den Umgang eines im Selbstverständnis tadellosen Landes mit seiner längst nicht tadellosen Geschichte nach. von Kaspar Surber

Als Ende letzten Jahres eine Chronik der Generalsfamilie Wille erschien, wurde diese von der NZZ als sachlich und undogmatisch bezeichnet. Niklaus Meienbergs Artikelserie «Die Welt als Wille und Wahn. Naturgeschichte eines Clans», 1987 unter einigem Wirbel in der Weltwoche publiziert, wurde dagegen als «polemisches Porträt» abgestempelt, auch wenn die neue Chronik seine alten Erkenntnisse weitgehend übernahm. In einem lesenswerten Artikel in der WOZ schlug Stefan Keller daraufhin eine Bresche für den Journalismus in der Geschichtsschreibung. «Der trockenen, kalten, unbeirrbaren Geschichte ziehe ich die leidenschaftliche Geschichte vor. Und ich bin fast geneigt zu glauben, dass sie wahrer ist», zitierte er den französischen Mediävisten Georges Duby.
Tatsächlich hat die unakademische Geschichtsschreibung immer wieder am Selbstverständnis dieses Landes gerüttelt und die Lehrstühle zur Nachforschung angetrieben: Meienbergs Artikel bilden mit den Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung um die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg. Mit «Grüningers Fall» hat Stefan Keller diese fortgesetzt, daneben mit «Maria Theresia Wilhelm, spurlos verschwunden» als einer der ersten über die Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie berichtet (wiederlesen unbedingt, in diesen Überwachungstagen). Willi Wottreng nahm den Faden im «Hirnriss» auf, seiner Diagnose der Burghölzli-Klinik, und erzählte wiederum in «Tino, König des Untergrunds» die 68er-Unruhen aus Sicht der späteren Hells Angels. Die von Duby angeführte Leidenschaft sowie der veränderte Blickwinkel auf die herrschenden Verhältnisse, häufig der «von unten» oder der «von aussen», macht diese Bücher zu kritischen Büchern.

Wenn Mitte Oktober nun Hans Fässlers Buch «Reise in Schwarz-Weiss» erscheint, darf man es zweifelsohne ins Gestell dieser liebsten Geschichtsbücher reihen: Zwar ist es nicht das erste zur Beteiligung der Schweiz am transatlantischen Sklavenhandel, wohl aber das engagierteste: Der Autor empört sich auf dreihundert Seiten, dass es trotz des traurigen Themas eine Freude ist. Der gewählte Blickwinkel wiederum macht seine Empörung verständlich: «Ich habe mir», schreibt Fässler, «im Kontakt mit Historikern und politischen Aktivisten rund um den Atlantik die - je nach Sichtweise - dumme Gewohnheit oder Fähigkeit angenommen, Texte, Quellen, Fakten zur schweizerischen Sklavereibeziehung mit «schwarzen Augen», d.h. aus der Sicht der betroffenen Schwarzen zu lesen. Und die Verwunderung und bisweilen Empörung, die daraus entsteht, möchte ich mir nicht nehmen lassen. Genauso wenig wie die Bezeichnung «Nègre blanc», die mir als Titel grössere Freude macht als der «lic.phil» der Uni Zürich.»

Atlantik am Alpstein
Ausgangspunkt von Fässlers Buch ist der sogenannte Dreieckshandel zur Kolonialzeit: Schiffsexpeditionen verliessen die europäischen Handelshäfen mit Textilien, Waffen, Metall und Kochgeschirr, löschten die Ladung in Afrika, transportierten versklavte Menschen über den Atlantik und brachten von Amerika Rohstoffe zurück - wobei diese so roh auch nicht mehr waren: «Es waren die Sklavinnen und Sklaven (...) welche das Zuckerrohr quetschten und den Saft weiterverarbeiteten bzw. die Baumwolle pflückten und entkernten.» Nach dem karibischen Historiker Eric Williams soll der Dreieckshandel der Motor für die europäische Industrialisierung gewesen sein. Fässlers Frage lautet nun, inwiefern sich Bürgerinnen und Bürger auf dem heutigen Territorium der Schweiz am Dreieckshandel beteiligt und von diesem profitiert haben. Oder metaphorisch gesprochen: Inwiefern der Atlantik an die Hügel des Appenzellerlandes brandete.
Wirtschaftliche Beteiligungen am Dreieckshandel gab es viele - und in vielerlei Form. Um in der Ostschweiz zu bleiben: Louis Giger etwa, Bürger von Bürglen, reich geworden mit einem Bankhaus in Paris, investierte 1717 als viertwichtigster Aktionär 800'000 Pfund in die «Mississippi-Gesellschaft», ein Spekulationskarusell um Profite, Kolonien, Edelmetalle, Kaffee, Zucker, Sklavinnen und Sklaven. Das Platzen der Spekulationsblase scheint ihn nicht betroffen zu haben: Giger verbrachte den Lebensabend auf Landsitzen am Genfersee und in Versailles. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert importierten die Zellweger aus Trogen mit Hauptniederlassung in Lyon Rohbaumwolle in grossen Mengen. Die fertigen Baumwollprodukte gingen zum Teil im Export nach Afrika, die bedruckten Indiennes-Tücher wurden gar als «Währung des Sklavenhandels» bezeichnet. Der Gewinn der Familie findet sich noch heute rund um den Trogener Landsgemeindeplatz in Paläste gemauert. Jacob Laurenz Gsell schliesslich, ein junger St.Galler aus gutem Haus, ging 1836 selbst nach Rio de Janeiro, gründete dort mit zwei weiteren St.Gallern die Firma «Billwiller, Gsell & Co», deren Firmentätigkeit mit «Stoffimporte, Kaffee-Export, Sklavenhandel» angegeben wird. Als Millionär, in Begleitung eines Sklaven, kehrte Gsell 1850 nach St.Gallen zurück, baute sich am unteren Rosenberg ein Haus mit Pferdestallungen, bekleidete zahlreiche öffentliche Ämter und wurde Gründungsmitglied der Helvetia-Versicherung.
Gewichtig war auch die diskursive Beteiligung von Schweizern an der Sklaverei, genauer an ihrer rassistischen Rechtfertigung. Als er sich in seiner Heimat als Geologe und Zoologe einen Ruf und einen Lehrstuhl in Neuchatel erworben hatte, reiste beispielsweise Louis Agassiz 1846 für eine Vortragsreihe in die Vereinigten Staaten. In einem Brief an seine Mutter schrieb er: «In Philadelphia hatte ich erstmals längere Berührung mit Negern (...) Wenn ich ihre schwarzen Gesichter mit ihren dicken Lippen und grinsenden Zähne sah, die Wolle auf ihrem Kopf, ihre krummen Knie und langen Hände, ihre langgebogenen Fingernägel und besonders die fahle Farbe ihrer Handflächen, musste ich sie immer anblicken, um ihnen zu bedeuten, mir vom Leibe zu bleiben. (...) Welches Unglück für die weisse Rasse, dass sie ihre Existenz in manchen Ländern so eng mit der Negerrasse verknüpft hat! Gott bewahre uns vor solcher Berührung!» Agassiz wurde zur Anhänger der Polygenese, welche behauptete, die «Rassen» seien zu verschiedener Zeit an verschiedenen Orten entstanden und gehörten nicht einer einzigen Menschheit an. Auf einer Plantage in South Carolina liess er Bilder von Sklavinnen und Sklaven herstellen, um seine Theorie der Minderwertigkeit der Schwarzen zu untermauern. Die Sklavenhalter in den Südstaaten nahmen die Worte des berühmten Naturforschers aus der Schweiz gerne zur Kenntnis.

Mögliche Wiedergutmachung
«Der Slogan der antikapitalistischen Bewegungungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, «There is no hinterland» galt schon für die atlantische Welt der Sklaverei des 18. und 19. Jahrhundert», schreibt der ehemalige haitianische Aussenminister Joseph Philippe Antonio im Vorwort zum Buch. Am Ende zieht Fässler eine vorsichtige Bilanz: Der transatlantische Sklavenhandel dauerte insgesamt von 1444 (erster Transport von Sklaven von Lagos nach Portugal) bis 1888 (Ende der Sklaverei in Brasilien). In dieser Zeit wurden 12 Millionen Menschen versklavt. Schweizer waren über Beteiligungen an Kolonialgesellschaften für die Verschleppung von mehr als 170'000 Sklaven verantwortlich - also für 1,5% an der transatlantischen Gesamtzahl. Den Schweizer Plantagen- und Sklavenbesitz wie auch die Beteiligung an militärischen Operationen siedelt Fässler prozentual ebenfalls im einstelligen Bereich an. Nicht beziffern lassen sich die Beiträge der Schweiz zur ideologischen Untermauerung der Sklaverei. Sie überstiegen, meint Fässler, jene zur Abschaffung der Sklaverei allerdings bei weitem. Und der pseudowissenschaftliche Rassismus wird umso brisanter, als er das Bindeglied zwischen dem Rassismus der frühen Neuzeit und den Rassentheorien der Nazis und der Apartheid bildet.

2001 hat die UNO an ihrer Weltkonferenz gegen Rassismus die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Afrikanische NGO's stellten damals auch die Forderung nach Reparation an die Opfer. «Wiedergutmachung besteht zunächst einmal in der Aufarbeitung der geschichtlichen Wahrheit, wenn möglich durch eine Zusammenarbeit der Opfer und der Täter. Darauf muss ein symbolischer Akt folgen, welcher der Grösse und Tragweite des festgestellten Leidens und der festgestellten Schuld oder Mitverantwortung angemessen ist», schreibt Fässler. Wie sehr man sich in der Schweiz allein schon vor der Wahrheit fürchtet, zeigt der Autor in seinem Buch ebenfalls - am treffendsten in einem Brief an die Nachkommen der Familie Pourtalès aus Neuchâtel, welche ihm, im Gegensatz zu nahestehenden Chronisten, die Herausgabe ihrer Akten verweigert hat. Im Kanton St.Gallen hatte es bereits im Vorfeld einen Disput gegeben: Bürgerliche Politiker bezeichneten das Thema des Buches als gesucht und nebensächlich, hauchdünn nur bewilligte der Kantonsrat eine Unterstützung aus dem Lotteriefonds.

Ganz in diesem Sinn ist «Reise in schwarz-weiss» ein breite Leserschaft zu wünschen - auch wenn es sich nicht immer leicht liest: Die Unterteilung in 19 Lokaltermine, von 9400 Rorschach bis 1030 Bussigny-près-Lausanne, überzeugt zwar gerade für die Forderung nach Wiedergutmachung. Geschichte wird nicht als zeitliche Abfolge beschrieben, sondern als räumliche Verortung: Man kann sich nicht von ihr absetzen, sondern bleibt mit ihr ständig in Berührung. Der Übersichtlichkeit, der Verständlichkeit des Themas ist damit nicht immer gedient - erst recht nicht, weil Fässler, der sich selbst als «Provinzkabarettist und Teilzeithistoriker» einführt, auch noch allzu gern den Plot zugunsten der Pointe opfert. Doch das sind stilistische Einwände: Manchmal blickt man abends aus dem Fenster und fragt sich beunruhigt, woher denn all der Reichtum kommt in diesem Land. Hans Fässlers Buch ist eine Antwort darauf. Und eine Anleitung, sich diese Frage immer wieder zu stellen.