Streben nach historischer Wahrheit

Antwort auf Leserbrief "Wiedergutmachungskarussell" vom 24. Mai 2006

Frau Küffer hat mir mit ihrem Leserbrief zur Frage der Wiedergutmachung von Sklaverei und Sklavenhandel eine gute und zwei schlechte Nachrichten geschickt. Die schlechten vorneweg: Sie geht erstens offenbar davon aus, dass es auf der Welt eine Gruppe von Menschen gibt (zu der sie mich natürlich dazuzählt), die nichts anderes zu tun haben, als darüber nachzudenken, wie man die Schweiz schlecht machen und dem unschuldigen kleinen Land Riesensummen abpressen könnte. Dabei geht es gar nicht um die Schweiz und primär auch nicht um Geld, sondern um das Streben nach historischer Wahrheit, nach Gerechtigkeit und Versöhnung mit den Nachkommen der Opfer der "unbroken chain" von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus. Und letztlich um die Frage, ob man sich von ihrem Elend berühren lassen will.

Frau Küffer möchte zweitens die Wiedergutmachungsdebatte offenbar dazu verwenden, die "Menschen, die zu Zehntausenden bei uns leben" loszuwerden und in die Länder des Südens zurückzuschicken, wo sie dann endlich richtig arbeiten sollen. Ich weiss nicht, ob ich diese Idee zynisch oder rassistisch nennen soll.

Die gute Nachricht ist die: Die Leserbriefschreiberin hat die Debatte aufgenommen und anerkennt mit ihrer Argumentation eine Art Pflicht zur Wiedergutmachung. Ihre Frage, ob die Entwicklungshilfe-Milliarden hier nicht miteinbezogen werden sollten, ist interessant und muss diskutiert werden. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass zahlreiche Entwicklungsökonomen davon ausgehen, dass die Industrieländer des Nordens in den genannten Jahrzehnten weit mehr Profite aus den Ländern des Südens herausgeholt als in Form von Entwicklungshilfezahlungen an diese geleistet wurden.

Insgesamt freue ich mich aber sehr über die Weiterführung der Debatte. Ich habe in diesen Tagen im Zusammenhang mit der Analogie "Kulturgüterstreit/Sklaverei-Wiedergutmachung" eine breit angelegte Umfrage bei den St.Galler Mitgliedern der eidgenössischen Räte, den kantonalen Partei- und Fraktionsspitzen, der Regierung, der katholischen Administration, der Stiftsbibliothek, dem Bistum und Vertretern der Rechtswissenschaft lanciert, auf deren Ergebnis man gespannt sein kann.

Hans Fässler
Cunzstr. 31
9016 St.Gallen