HANS FÄSSLER, 1.-AUGUST-REDNER IN BRISSAGO

Statt vom Rütli erzählt er von Sklaven

Von René Lenzin

Landauf, landab werden sie morgen wieder ertönen, all die Reden über das Rütli und den Schwur der drei Eidgenossen, über Niklaus von der Flüe und die Neutralität, über die Willensnation und ihre Gründerväter. Die einen werden aus der Geschichte Argumente für eine aussenpolitische Öffnung schöpfen, die andern für den ewigen Alleingang.

Anderes im Sinn hat Hans Fässler, der Festredner in der Tessiner Gemeinde Brissago. Dort, wo der Brissago-Stumpen herkommt und die Zigarrenfabrik Dannemann noch heute ein Zentrum unterhält, will Fässler halb auf Deutsch, halb auf Italienisch eine Geschichte erzählen, die er auf der Homepage des Unternehmens vermisst. Die Geschichte der Sklaven, die den Reichtum der Zigarrenfabrikanten im 19. Jahrhundert erst ermöglicht hätten. «Wir dürfen nie vergessen, liebe Raucher und Nichtraucher, dass es Sklaven waren, die den Tabak gesät, gepflegt und geerntet haben», wird Fässler den Bürgerinnen und Bürgern ins Gewissen reden.

Das Tabakimperium des Geraldo Dannemann im brasilianischen Bahia wäre ohne Sklaven aus Afrika nie möglich geworden, wird Fässler weiter ausführen. Und vor dem Deutschen Dannemann seien in Brasilien auch schon Schweizer Unternehmer dank der Arbeit der Sklaven reich geworden, etwa der Berner Gabriel Emmanuel von May.

Die Sklaverei und vor allem die Beteiligung von Schweizerinnen und Schweizern an diesem unmenschlichen Geschäft ist für Fässler längst zur grossen Leidenschaft geworden. Vor drei Jahren hat der heute 54-jährige Historiker, Mittelschullehrer, Kabarettist, Gewerkschafter, frühere St. Galler SP-Grossrat und Teilzeithausmann sein Buch «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei» veröffentlicht. Ob Schokolade, Zucker oder Textilien - bei allen Schweizer Erfolgsgeschichten des 19. Jahrhunderts zeigt Fässler auf, welche Bedeutung die Sklaverei für die jeweilige Branche hatte. Und welche unrühmliche Rolle zahlreiche Schweizer seiner Ansicht nach dabei gespielt haben.

«Was ich euch erzähle, ist eigentlich eher eine 1.-Mai- als eine 1.-August-Ansprache», wird Fässler den Leuten in Brissago auch noch sagen. Aber in der Bundesverfassung seien ja schliesslich Solidarität und Weltoffenheit verankert, und wann könne man diese Werte besser thematisieren als am 1. August, wird der Vater zweier Kinder anschliessend rhetorisch fragen.

Seine Forschungen über die Sklaverei werden ebenso gelobt wie kritisiert. Polemisch, einseitig, aus dem historischen Zusammenhang gerissen, urteilen die einen. Endlich einer, der sich dieses trüben Kapitels annimmt, werten die andern. Zu Letzteren gehört Edouard Wahl, ein 85-jähriger Querdenker, der in diesem Frühjahr auf der Liste «Farsi coraggio» (sich Mut machen) ins Gemeindeparlament von Brissago gewählt worden ist. Er hat Hans Fässler als Redner ins Tessin geholt. Morgen wird sich zeigen, wie seine Mitbürger auf dessen Rede über Tabak und Sklaven reagieren. Wer weiss, vielleicht wird sich der eine oder andere wieder nach Rütlischwur und Neutralität zurücksehnen.

Tagi vom 31.7.08