Afrika Taschenkalender 2007

RÜCKERSTATTUNG UND WIEDERGUTMACHUNG

Ortstermine in Sachen Sklaverei

»Als sie sich der Stadt näherten, trafen sie auf einen Neger, der ausgestreckt auf dem Boden lag und nur noch sein halbes Gewand trug, das heißt, eine kurze Hose aus blauem Stoff, dem armen Mann fehlten das linke Bein und die rechte Hand. "Mein Gott! Was machst du da so schrecklich zugerichtet, wie ich dich hier vorfinde, mein Freund?", fragte ihn Candide in holländischer. Sprache. "Ich warte auf meinen Meister, Herr Vanderdendur, den berühmten Händler", antwortete der Neger. "Hat dich Herr Vanderdendur so zugerichtet?", fragte Candide. "Ja, mein Herr, das ist üblich. Jedes Jahr gibt man uns als einzige Bekleidung eine kurze Hose aus Stoff; wenn wir in der Zuckermühle arbeiten und ein Finger gerät zwischen die Mahlsteine, dann schneidet man uns die Hand ab; wenn wir flüchten wollen, schneidet man uns das Bein ab; ich habe mich in beiden Lagen befunden: Zu diesem Preis essen Sie in Europa Zucker."«

1759 bereits brachte der große Aufklärer Voltaire in seinem Bestseller Candide oder Der Optimismus mit dieser Szene das Verbrechen der Sklaverei auf den Punkt. Doch die Zeit der Aufklärung verdrängte weiterhin, von Ausnahmen wie Voltaire abgesehen, die Frage der Sklaverei, selbst die Französische Revolution ging das Problem nur halbherzig an, bevor unter Napoleon die restaurativen Kräfte siegten - und damit auch noch einmal die Sklavenhalter. Haiti, dem einzigen Land, wo es den Sklaven im Gefolge der Französischen Revolution gelang, die Freiheit zu erkämpfen, war dies nur zu einem hohen, die weitere Geschichte zutiefst belastenden Preis möglich.

200 Jahre nach dem Tod des haitianisehen Unabhängigkeitsführers Toussaint l'Ouverture, der 1803 in Napoleons Gefangenschaft starb, foderte 2003 der damalige Präsident Haitis, Aristide: »1825 mussten wir unter der Regierung Boyer 90 Millionen Goldfrancs an Frankreich zahlen, heute verlangen wir den auf das Jahr 2003 aufgerechneten Gegenwert von 21.685.135.571 Dollar und 48 Cents zurück.« Die Menschenmenge reagierte mit begeisterten Rufen »Reparation!« und »Restitution!« Wobei es hier »nur« um Rückerstattung und noch nicht einmal um Wiedergutmachung ging. Die geladenen Gäste, unter ihr der französische Botschafter, gaben sich äußerst reserviert. In einer Diskussionsrunde von haitianisehen Ministern sagte anschließend einer: »Der Präsident hat soeben Frankreich den Krieg erklärt!« Und prophetisch hinzugefügt: »Ich bin nicht sicher, ob wir diesen Krieg gewinnen können.« Bereits im darauf folgenden Jahr wurde Aristide – mit tatkräftiger Unterstützung Frankreichs – gestürzt.

Doch die Forderungen nach Rückerstattung und Wiedergutmachung, angelehnt an Forderungen von Opfern der Nazi-Verbrechen, bleiben auf der Tagesordnung, in Afrika wie auf dem amerikanischen Kontinent. Ganz Europa war in die Sklaverei involviert und profitierte davon, auch Länder, die nicht wie Frankreich, Holland oder England staatlicherseits beteiligt waren. Ein Buch, aus dem die obige Szene um Aristide entnommen ist (S. 9), dokumentiert dies minutiös am Beispiel eines Landes, das sich bis in die jüngste Vergangenh außerhalb jeder Mitverantwortung wähnte – die Schweiz:

Hans Fässler: Reise in Schwarz-Weiß. Schweizer Ortstermine Sachen Sklaverei. Rotpunktverlag: Zürich 2005