Eiszeit auf dem Agassizhorn

Louis Agassiz war so berühmt, dass ihm ein Berg gewidmet wurde – nun ist er berüchtigt

Weil Louis Agassiz ein Rassist war, fordern Politiker und Historiker die Umbenennung des Agassizhorns. Doch für die Behörden trägt der Berg den Namen wegen Agassiz’ Verdienste als Forscher.

von Johannes Reichen

Wenn Christoph Ammann zu Hause aus dem Fenster blickt, kann er das Agassizhorn beinahe sehen. Der SP-Grossrat lebt in Meiringen im Berner Oberland. Er ist Sohn eines Bergführers, und er geht gerne auf Skitouren. «Für mich», sagt er, «ist die Bergwelt nicht nur eine Kulisse.» Und darum hat er im Kantonsparlament ein Postulat eingereicht. Er will, dass das Agassizhorn verschwindet, zumindest von der Landkarte. Ammann ist nicht alleine mit seinem Anliegen.

Im Schatten des höchsten Gipfels im Kanton Bern, des Finsteraarhorns, liegt der Berg. Die Spitze des Agassizhorns befindet sich auf 3953 Metern über Meer, genau auf der Grenze zwischen Bern und Wallis. Seinen Namen trägt es zu Ehren Louis Agassiz’, eines Neuenburger Naturforschers, der vor 200 Jahren geboren worden ist. Er hatte sich einen Namen als Forscher über fossile Fische und Gletscher gemacht und war ein Verfechter der Eiszeittheorie (siehe Kasten). Aber jetzt, 134 Jahre nach seinem Tod, ist er wegen einer anderen Sache im Gespräch. Agassiz war ein Rassist.


Das felsige Denkmal wankt.

Der Historiker Hans Fässler schlägt in seinem 2005 erschienenen Buch «Reise in Schwarz-Weiss – Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei» vor, das Agassizhorn in Rentyhorn umzutaufen – des Sklaven Renty zu Ehren, den Agassiz hatte fotografieren lassen als Beweis für die Minderwertigkeit der «schwarzen Rasse».

Ein Komitee aus Historikern, Schriftstellern, Journalisten und Politikern wurde gegründet, das den neuen Namen fordert. Der Genfer SP-Nationalrat Carlo Sommaruga hatte eine Interpellation gleichen Zwecks eingereicht. Und Ammann verlangt in seinem Vorstoss von der Berner Regierung, «auf eine Umbennung des Agassizhorns hinzuarbeiten».

«Ich distanziere mich von jeglicher Form von Rassismus», sagt der Sozialdemokrat. «Wer sich näher mit Agassiz befasst, der muss zum Schluss kommen, dass er auch eine problematische Seite hat.» Niemand müsse auf Ewigkeiten beehrt werden; es gebe genug Persönlichkeiten, denen ein Berg gewidmet werden könne, sagt er. Auf den Vorschlag «Rentyhorn» hat Ammann im Postulat jedoch bewusst verzichtet.

Im Jahr 1846 reist Louis Agassiz für eine geologische Studienreise in die USA. Wie Hans Fässler schreibt, trifft er dort zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Schwarzen. Als Hotelgast wird er in Philadelphia von einem Schwarzen bedient, und das tut er in einem Brief seiner Mutter kund. Er empfinde Mitleid «beim Anblick dieser verderbten und entarteten Rasse, und ihr Schicksal erweckte mein Mitgefühl bei dem Gedanken, dass sie wirklich Menschen sind. Trotzdem kann ich das Gefühl nicht unterdrücken, dass sie nicht vom selben Blut sind wie wir».

Agassiz wird zum Anhänger der Polygenese, die besagt, dass es nicht eine Menschheit gibt, sondern verschiedene «Rassen» unterschiedlichen Ursprungs. «Der Wissenschafter, der ein Ausbund von Ausdauer, Genauigkeit, methodologischer Korrektheit und Systematik war, wenn es um fossile Fische ging, verbreitete plötzlich hemmungslos rassistische Gemeinplätze», schreibt Fässler. Agassiz lässt auf einer Plantage Sklaven fotografieren; damit will er seine Theorie der minderen Schwarzen dokumentieren. Auch Renty wird abgelichtet.

«Ohne Zweifel abscheulich» findet Stefan Bucher, Konservator für Geologie am Naturhistorischen Museum Neuchâtel Agassiz’ Rassentheorie. Einer Umbenennung des Horns kann er aber nichts abgewinnen. «Es gibt das Agassizhorn nicht, weil er über Fische oder über Schwarze geschrieben hat, sondern wegen der Eiszeittheorie.» Wissenschaftlich sei diese Arbeit lupenrein. Zudem gebe es eine Vielzahl von fossilen Fischen, die den Namen von Louis Agassiz tragen. «Auch sie müsste man umtaufen.»

Die laufende Diskussion über Agassiz’ Theorien könne wertvoll sein, sagt auch Ueli Gnägi, Redaktor der «Mitteilungen» der Naturforschenden Gesellschaft des Kantons Solothurn. So sehr er Agassiz’ Rassismus verurteilt – eine Umbenennung fände er problematisch, besonders den vorgeschlagenen neuen Namen Rentyhorn. «So würde der Rassismus von Agassiz erst recht verewigt.»

Für den Bundesrat besteht kein Grund, das Agassizhorn umzubenennen – die Auszeichnung für das Lebenswerk des Forschers stehe nicht imWiderspruch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den rassistischen Ansichten, teilte er in seiner Antwort auf die Interpellation mit. Ausserdem seien die Kantone und Gemeinden für die Vergabe oder Änderung von Namen zuständig; in diesem Fall Fieschertal im Wallis sowie Grindelwald und Guttannen.

Grossrat Ammann will nun die Antwort des Regierungsrats abwarten und dann eventuell eine Motion einreichen mit dem Ziel, dass die Regierung die Umbenennung «im Rahmen der kantonalen Kompetenz» einleitet.

In Grindelwald wurde «im Gemeinderat darüber gesprochen», sagt Andreas Studer, bis vor kurzem Gemeindepräsident, auf Anfrage (noch vor seinem sofortigen Rücktritt in dieser Woche). Wie für die anderen Gemeindepräsidenten gebe es für ihn allerdings keinen Grund, auf das Begehren einzugehen, sagt Studer. «Denn sonst müsste man vielleicht auch den Mönch umtaufen, der immer auf die Jungfrau schielt.»

Im Schatten von Louis Agassiz: Der Solothurner Naturforscher Franz Joseph Hugi

Zwischen dem Agassizhorn und dem Finsteraarhorn liegt der Hugisattel. Auch der ist nach einem bekannten Forscher benannt: dem Solothurner Franz Joseph Hugi (1791 – 1855). Hugi erkundete wie der Neuenburger Louis Agassiz (1807 – 1873) Gletscher. Zu ihren Lebzeiten war anfänglich noch nicht bekannt, dass es einst grossflächige Vereisungen auf der Erde gegeben hatte. Beide trugen dazu bei, dass sich dies änderte.

Hugi sei «Vorreiter» in Sachen Eiszeittheorie gewesen, sagt Stefan Bucher, Konservator für Geologie am Naturhistorischen Museum Neuchâtel. Ab 1827 forschte Hugi während fünf Jahren auf dem Unteraargletscher. «Er hatte sich in Gletscherspalten abgeseilt, um das Innere zu erforschen», sagt Peter Berger, Präsident der Naturforschenden Gesellschaft des Kantons Solothurn. «Er war ein sehr guter Naturbeobachter.» Den Ruhm erlangte aber Agassiz. Er liess sich 1840 ebenfalls auf dem Unteraargletscher eine Hütte bauen, die als «Hôtel des Neuchâtelois» europaweit bekannt werden sollte. «Agassiz führte gewissermassen Hugis Werk weiter», so der Historiker Hans Fässler. Und wurde für die Eiszeittheorie berühmt. «Agassiz war es, der sie weltweit verbreitet hat», sagt Stefan Bucher. Der Amerikaner Bill Bryson schreibt in seinem Bestseller «Eine kurze Geschichte von fast allem», dass Agassiz es gewesen sei, «der sich die Theorie nach anfänglicher Skepsis ebenfalls zu eigen machte und sie schliesslich sogar fast für sich allein vereinnahmte.»

Hugi stand oft allein mit seinen Theorien – und der Neuenburger Fraktion gegenüber. Es war ein Streit unter Wissenschaftern; Agassiz’ und Hugis Meinungen über die Ausbreitung der Gletscher gingen auseinander. Kurz: Agassiz glaubte, ein Gletscher nehme neues Wasser auf, das gefriere, womit sich der Gletscher ausdehne. Hugi dagegen ging von unterschiedlichen Schichten, einer «Verschiedenheit des innern und äussern Eises» aus: So entstünden Spannungen und Schründe, die Gletscher wüchsen und schöben sich vor. Hugi musste sich wehren «gegen die Behauptung der Neuenburgerpartei, dass er die Gletscher ‹wie lebende Wesen› betrachte», wie in einem Jubiläumsband zum 100-Jahr-Jubiläum der Solothurner Naturforschenden Gesellschaft von 1923 steht. Als «Mischmasch» wurden die Schriften des Solothurner Forschers bezeichnet – und der nannte seine Kontrahenten «Agassiz und seine Handlanger».

Franz Joseph Hugi aber ging unbeirrt seinen Weg. «Weichen war meine Sache nie», schrieb er, dafür zeugten «meine Alpenreisen, meine harten Wanderungen». Stolz war er auf die Gründung des heutigen Naturmuseums, des ersten Museums in Solothurn, das auf seiner umfangreichen Gesteins- und Mineraliensammlung basiert. Kämpferisch und enttäuscht zugleich kommentierte Hugi, er habe es «ohne Unterstützung, ohne Vermögen und gegen unzählige Anfeindungen zum Ziele führen» müssen, «wofür ich nun, wie ich voraussah, statt Anerkennung Spott und Verfolgung geerntet habe.» (joh)



Louis Agassiz wurde schon einmal
vom Sockel gestürzt: 1906 hielt die
Statue vor der Stanford University in
Kalifornien einem Erdbeben nicht stand.