Ein Kabarett hat Folgen

Die Fenster des karg ausgestatteten Redaktionsbüros im ersten
Stock des Flachdachbaues gingen auf die Langgasse hinaus. Blickte
ich von der Arbeit auf, erstarrte die Welt zum eintönigen Gemälde: Eine
Autokolonne, die sich Richtung Heiligkreuz im Wald verlor, mitunter ein
einsamer Passant über dem Steinachtobel. Einmal pro Woche
belebte ein Velofahrer, einen Kinderanhänger im Schlepptau, dieses
Bild - Hans Fässler auf dem Weg zur Redaktion der Ostschweizer
Arbeiterzeitung. Der Sekretär der Sozialdemokratischen Partei des
Kantons St. Gallen redigierte, mettierte und klebte die wöchentlich
erscheinende Seite «sp aktuell», welche die Genossin- nen und
Genossen über das Innenleben und die politischen Vorstösse der
Partei unterrichtete.

Vorurteile

Als ich 1991 von der mittlerweile ebenfalls untergegangenen Zeitung
am Oberen Graben an die Langgasse wechselte, beschenkten mich
Berufskollegen grosszügig mit Vorurteilen: Ein unverbesserlicher
linker Ideologe sei dieser Fässler, ein schrecklich trockener Mensch,
ein aufsässiger Politiker, mit dem nicht zu spassen sei, ein
unerbittlicher Parteisoldat. Ein St. Galler Lenin, dachte ich.
Solchermassen vorbereitet, hielt ich zunächst Distanz zum
Parteisekretär und scharfzüngigen Kantonsrat, der jeweils am
Mettagepult rasch und einsilbig das Skalpell führte und dann mit
knappem Gruss wieder Richtung Stadt entschwand. Die ersten
ernsthaften Kontaktversuche meinerseits waren schlecht kaschierte
politische Provokationen. Der angebliche Oberideologe antwortete
zunächst mit einem indignierten Blick, legte eine Kunstpause ein -
dann blitzte ein ironisches Grinsen auf, sarkastisch gab er mir zurück.
Ein Spassvogel war dieser Mensch zwar nicht, einen jovialen
Schenkelklopfer würde er nie abgeben. Aber ebenso wenig stand vor
mir ein Egon-Krentz-Verschnitt, wie man mir hatte weismachen
wollen. Mehr als ein Jahrzehnt ist seither verstrichen. Hans Fässler ist
längst nicht mehr Parteisekretär, aus dem Kantonsrat hat er sich
zurückgezogen. Politisch ist er dennoch aktiv und sich treu geblieben:
als Kabarettist beschäftigt sich der Mittelschullehrer im Jubiläumsjahr
SG 2003 am Beispiel des haitianischen Revolutionsführers Toussaint
Louverture mit den Verstrickungen von Ostschweizer und Schweizer
Unternehmerfamilien in den Sklavenhandel. Offensichtlich hat Fässler
den schwer verdaulichen Stoff so bekömmlich aufbereitet, dass das
Publikum nicht nur Überraschendes über sein Land erfährt, sondern
sich dabei auch noch glänzend unterhält. Lob kommt auch von
solchen, die linker Kumpanei nicht verdächtig sind. Etwa vom
St. Galler Staatssekretär Martin Gehrer: «Wer seine Aufführung
verpasst, verpasst wirklich etwas.» Über 2000 Frauen und Männer
haben mittlerweile das Stück gesehen. Manche kommen gar zweimal,
wie Fässler festgestellt hat. Auch ausserhalb St. Gallens - so in
Luzern, in Basel und im Thurgau - ist der St. Galler aufgetreten.

Einladung nach Haiti

Bald ist ausgejubelt in St. Gallen, bald fällt der Vorhang zu Fässlers
letzter Vorstellung. Schluss ist deswegen noch lange nicht: Der
49-Jährige wird seine ausgiebigen Recherchen, die dem Kabarett
vorausgegangen sind, auswerten und während eines
Bildungsurlaubes zu einem Buch verarbeiten. Ein in jeder Hinsicht
zum Anglisten und Historiker Fässler passender Verlag ist bereits
gefunden: der Zürcher Rotpunktverlag. Dass das Kabarett Kreise bis
nach Haiti gezogen hat, wird den Drittwelt-Aktivisten besonders freuen:
Fässler flatterte eine Einladung von Haitis Aussenminister ins Haus.
Das Ende dieser Geschichte ist allerdings offen: Denn noch ist nicht
terminiert, wann der Kabarettist ins Land des Revolutionsführers
Toussaint Louverture fliegen wird.  Andreas Fagetti

Hans Fässler, Louverture stirbt 1803, 1. November, 19.30 Uhr, Offene
Kirche St. Leonhard, St. Gallen.