Kantonsrat Appenzell Ausserrhoden
Interpellation Ivo Müller (SP)

"Schweizer und Appenzeller Spuren zu Sklaverei und Sklavenhandel mit der Neuen Welt"

A u s g a n g s l a g e

Im Zusammenhang mit der Diskussion, welche an der UNO-Konferenz von Durban über afrikanische Entschädigungsforderungen an die Adresse Europas geführt wurde, wurde in der Schweiz einmal mehr die Überzeugung deutlich, dies alles gehe unser Land nichts an, weil wir mit Sklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus nichts zu tun gehabt hätten. Dabei haben namhafte Historiker aufgezeigt, dass über die grossen seefahrenden Nationen Spanien, Portugal, England, Frankreich und Holland hinaus der ganze europäische Kontinent durch ein weitreichendes Netz von Handels- und Finanzbeziehungen in den Dreieckshandel Europa–Afrika–Amerika–Europa mit einbezogen war, ja dass der wirtschaftliche Aufschwung Europas vom 16. – 19. Jahrhundert bis hin zur Industrialisierung zu einem beträchtlichen Teil auf diesen spezifischen ökonomischen Beziehungen und damit auch auf Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven beruhte.

Ein Studium verschiedener Werke und Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 18. Jahrhundert führte mich zur überraschenden Erkenntnis, dass die schweizerische Verflechtung mit Sklaverei und internationalem Handel weit enger war als bisher bekannt. So finden sich in praktisch allen relevanten Tätigkeiten des Handels mit Sklavinnen und Sklaven Schweizer Bürger: vom Gründer einer Sklavenhandelsburg vor der Küste Afrikas über den Reeder, Financier, Versicherer und Aktienbesitzer von Sklavenschiffen bis hin zum Besitzer oder Aufseher von Plantagen, zum Offizier und Soldaten im Kampf gegen revoltierende Sklavinnen und Sklaven und schliesslich zum Kaufmann im Geschäft mit Gütern für den Dreieckshandel (Textilien) und Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Baumwolle, Indigo).

Auch Menschen aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden waren in dieses schweizerische und europäische Netz von Finanz- und Handels-beziehungen einbezogen. Nach Walter Schläpfer, dem Autor der Appenzeller Geschichte, geschah im 18. Jahrhundert geradezu ein "ausserrhodisches Wirtschaftswunder". Die Produktion und der Handel mit Textilien führte zu engen wirtschaftlichen Beziehungen mit Frankreich, Italien und Übersee. "Die Verflechtung mit dem internationalen Handel nimmt erstaunliche Formen an. Man vernimmt, dass nicht nur die Kaufleute, sondern auch die Weber in den verstreuten Dörfern des Appenzellerlandes über die Abfahrtzeiten solcher Schiffe (von Cadiz nach Amerika) orientiert sein wollten und ihre Verkäufe darnach richteten." Walter Schläpfer, Appenzeller Geschichte, Herisau 1972, Seite 208.) Walter Schläpfer spricht an anderer Stelle auch von "gewaltigen Gewinnen" (ebenda S. 211), die Vertreter der Familie Zellweger aus Trogen in diesem appenzellischen Wirtschaftswunder unter anderem mit Handelsbeziehungen nach Westindien (Karibik) erzielten.

Auch der Herisauer Johann Rudolf Wetter, der in Marseille eine grosse Stoffdruckmanufaktur besass, unterhielt Handelsverbindungen bis nach Argentinien und Kolumbien. Peter Witschi, der Ausserrhoder Staatsarchivar, hat in seinem Buch "Appenzeller in aller Welt" herausgearbeitet, wie etliche Appenzeller in Übersee zu "einem neuen Vaterlande" und zu grossem Reichtum kamen. So sagte Johannes Tobler (1696 - 1765) aus Rehetobel, alt Regierungsrat und Begründer des Appenzeller Kalenders, der in die Südstaaten der USA auswanderte und Plantagenbesitzer wurde: "Ich besitze nun eine weitläufige Haushaltung, verschiedene und bequeme Häuser, Scheunen, Hütten, Magazine von Landesprodukten und Handelswaaren, Knechte, Mägde, Neger, Ross und Vieh..." (Peter Witschi, Appenzeller in aller Welt, Herisau o.J., Seite 264.) Während 20 Jahren besassen Mitglieder der Familie Schläpfer in Berbice (Surinam) zwei Sklavenplantagen, welche sie z.T. persönlich leiteten und als kleines Paradies schilderten. Ein gewisser Jacob Jakob aus Trogen war um 1850 Sklavenaufseher auf Kuba. (Diese und die anderen Angaben entnehme ich dem zitierten Buch von Peter Witschi.)


Z w i s c h e n b e m e r k u n g

Damit man mich richtig versteht:

Es geht mir bei meinen obigen Ausführungen nicht um irgendwelche Schuldzuweisungen, sondern um ein vertieftes Verständnis der Schweizer und Appenzeller Geschichte und der Beziehungen zu den Völkern und Menschen in den ehemaligen Kolonien, in der heutigen dritten und vierten Welt. Und es geht mir auch darum, die heutigen Beziehungen eventuell in ein anderes Licht zu stellen: das Bewusstwerden der eigenen Geschichte macht uns freier im Umgang mit den Menschen, deren Vorfahren mit unseren Vorfahren zu tun hatten.


F r a g e n

Ich ersuche deshalb den Regierungsrat um die Beantwortung der folgenden Fragen:

1) Ist der Regierungsrat bereit, die oben skizzierte Verknüpfung des Kantons Appenzell Ausserrhoden mit Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven aufarbeiten zu lassen oder eine Aufarbeitung zu unterstützen?

2) Die Schweiz hat 2001 mit der Schlusserklärung der UNO-Konferenz von Durban folgende Aussage mitunterzeichnet: "Wir bedauern, dass Sklaverei und Sklavenhandel entsetzliche Tragödien der Menschheitsgeschichte waren; nicht nur wegen ihrer abscheulichen Barbarei, sondern auch angesichts ihres Ausmaßes, der Art ihrer Organisation und vor allem der Negierung des Wesens der Opfer. Wir erkennen ferner an, dass Sklaverei und Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschheit sind ..." Ist der Regierungsrat bereit, Vorstellungen zu entwickeln, wie sich der Kanton, sollte eine Aufarbeitung die These von der weit reichenden schweizerischen Mitbeteiligung bestätigen, an einer gesamt-schweizerischen Aktion zur politischen Verarbeitung beteiligen könnte?