Randnotizen zur Antwort der St. Galler Regierung auf die Interpellation Linder "Schweizer und St. Galler Beteiligung an Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven"

von Hans Fässler

RR: Inwieweit historisches Unrecht über dessen Erforschung hinaus Akte der Wiedergutmachung verlangt, ist weltweit umstritten.

HF: Klar, umstritten ist es vor allem bei den Tätern, die allenfalls zahlen müssten oder sich wenigstens einer epochalen Schuld bewusst werden. Bei den Opfern ist es wenig umstritten. Wenig umstritten ist Wiedergutmachung auch, wenn sie vor allem von der CVP betrieben wird und sich auf durch Zürcher geraubte Kulturgüter handelt.

Allgemein begrüsst wird demgegenüber heute eine Verpflichtung zur Aufarbeitung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit. In diesem Zusammenhang hat die Schweiz grosse Anstrengungen zur Klärung ihrer Vergangenheit unternommen.

"Wird allgemein begrüsst“ ist eine wunderbare Verklärung der Tatsache, dass die Mehrheitsparteien dieser Regierung (FDP und CVP) sich bis vor kurzem mit Händen und Füssen gegen eine Aufarbeitung der 2.Weltkriegsvergangenheit, der Flüchtlingsgeschichte und des Falls Grüninger gewehrt haben.

Erinnert sei an das Projekt Schweiz und Zweiter Weltkrieg. Einzelne Kantone haben ihre Flüchtlingsakten archivisch aufgearbeitet, so auch der Kanton St.Gallen, der hierfür im Jahr 1997 einen Lotteriefondbeitrag von Fr. 120'000.- gewährte. Gestützt auf diese Aufarbeitung wurden und werden Aussenstehende ermuntert, das erschlossene Material zu benutzen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Warum lässt der Kanton also im einen Fall (2. Weltkrieg) Geschichte aufarbeiten und ermuntert geradezu zu Forschungsarbeiten, im anderen Fall (Sklaverei) argumentiert er, das sei nicht seine Sache?

So wird derzeit eine Flüchtlingsgeschichte in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben. An diesem Vorhaben beteiligt sich der Kanton mit einem im Jahr 2001 beschlossenen Lotteriefondbeitrag von Fr.140'000.-.

Der RR brüstet sich ausgerechnet mit der Aufarbeitung der 2.Weltkriegsvergangenheit. Dabei mussten die bürgerlichen Parteien zu jedem Schritt gestossen werden, sei es bei Grüninger und der Flüchtlingsfrage, sei es bei Bergier. Und nur der massive Druck aus den USA und von jüdischen Organisation unter anderem (via die bekannten Anwälte Fagan und Hausfeld) hat zu einem Umschwung geführt.

International zur Frage steht derzeit die Aufarbeitung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem früheren Apartheid-Regime in Südafrika. Dabei soll auch die Rolle der Schweiz untersucht werden. Eine solche Untersuchung kann jedoch nicht eine kantonale Aufgabe sein, sondern muss von nationaler Warte aus erfolgen, insbesondere deshalb, weil nur eine landesweite Untersuchung verwertbare Ergebnisse bringen kann.

Die Erwähnung der Aufarbeitung der Südafrika-Apartheid-Vergangenheit ist angesichts der Obstruktion durch die bürgerlichen Mehrheitsparteien der St. Galler Regierung (CVP und FDP) entweder zynisch oder eine Frechheit.

Dasselbe gilt auch für die in der Interpellation angesprochene Thematik der Sklaverei. Ein Aufarbeiten der geschichtlichen Umstände um das Sklavenwesen im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit kann nicht Aufgabe eines einzelnen Kantons sein.

Niemand hat je vom ausgehenden Mittelalter gesprochen, sondern immer nur von 18. Jahrhundert (das ist nicht "frühe Neuzeit"!). Die Formulierung "geschichtliche Umstände um das Sklavenwesen" ist im übrigen die bisher verharmlosendste Formulierung der "wohl grössten Zwangsemigration der Weltgeschichte" (Wirz), die mir je untergekommen ist.

Wenn überhaupt müsste es als eine landesweite oder gar internationale Aufgabe angesehen werden, diesbezügliche Forschungsprojekte in Gang zu setzen, wozu eine von der Politik unabhängige Forschung Impulse setzen müsste.

Man kann sich immer herausreden, dass man selbst nicht die richtige Instanz sei. Forschung ist aber immer lokal! Im Gemeinderat St. Gallen hiess es, das könne eine Stadt allein nicht machen. Jetzt heisst es dann vielleicht beim Bund, das müsse international gemacht werden.

Ob aus Ergebnissen von historischen Forschungen Entschädigungsforderungen abgeleitet werden können, kann nicht ohne weiteres beantwortet werden.

Immerhin wird das nicht ganz ausgeschlossen. Interessant!

Mit einiger Sicherheit kann indessen angenommen werden, dass nicht die Schweiz oder gar der Kanton St.Gallen im Zentrum von Ansprüchen stehen könnten, sondern - wenn überhaupt - wohl eher die ehemaligen Kolonialstaaten.

Woher weiss der RR jetzt plötzlich wieder, dass die Schweiz fein raus wäre und nur England, Frankreich etc. zahlen müssten? Und niemand hat je behaputet, die Schweiz stünde „im Zentrum“. Es geht um eine Mitbeteiligung. Und eine verhältnismässig kleine Mitbeteiligung an einem Riesenunrecht (Dutzende von Millionen betroffener Opfer und Zwangsverschleppte) beläuft sich auch auf eine grosse Mitschuld.

Adressatin allfälliger Entschädigungsforderungen könnte im Übrigen nicht die Schweiz als Staat sein, sondern es wären, sofern der Prozessweg überhaupt offen stünde, diejenigen Unternehmen zu belangen, denen ein Verschulden nachgewiesen werden kann.

Interessant, also die Zollikofers zum Beispiel?

Gestützt auf diese allgemeinen Ausführungen sind die einzelnen Fragen wie folgt zu beantworten:

1. Es ist Sache der Geschichtsforschung zu klären, ob und inwieweit Wirtschaft und Gesellschaft mit der Sklaverei direkt oder indirekt in Beziehung standen. Ohne gesicherte Forschungserkenntnisse ist es nicht vertretbar, sich darüber ein Urteil bilden zu
wollen.

Es gibt bereits jetzt genug gesicherte Ergebnisse, die eine Mitbeteiligung nahelegen. Dass die Schweiz mit dem Sklaverei-System und dem auf Sklaverei basierenden Dreieckshandel indirekt in Beziehung stand, ist historisches Allgemeingut, das man heute von jedem Lizentianden in neurer Wirtschafts- und Sozialgeschichte erwarten würde. Und wenn man es noch nicht weiss, so der Kanton, wieso kann man denn bereits mutmassen, die Schweiz würde hier nicht im Zentrum stehen ? (siehe oben)

2. Es besteht derzeit für einen einzelnen Kanton keine Veranlassung, entsprechende Forschungen einzuleiten oder zu unterstützen.

Wieso kommen denn die Stadt St. Gallen und der Kanton Basel zum gegenteiligen Ergebnis ? Und wieso hat der Kanton St.Gallen bei den Flüchtlingsakten dies gerade getan und brüstet sich heute damit und nennt noch die Summe, welche dafür ausgegeben wurde?

3. Mit möglichen Folgen aus der Unterzeichnung der Schlusserklärung der UNO-Konferenz von Durban haben sich - auf der Grundlage der bundesstaatlichen Zuständigkeitsordnung - die Bundesbehörden zu befassen. Ein Alleingang eines Kantons ist nicht angezeigt.

Dass der Kanton im Zusammenhang mit der Schlussdeklaration von Durban kein einziges Wort zum kolossalen Verbrechen der Sklaverei findet und zum unendlichen Leiden der Millionen Opfer (was bisher noch in jeder parlamentarischen Antwort stand und was immerhin sowohl CVP- und auch FDP-Sprecher im Grossen Gemeinderat St. Gallen geschafft haben), ist wahrscheinlich der grösste Skandal in dieser Antwort.


St.Gallen, 10. Juni 2003