Blumen für Toussaint Louverture

Verschiedene Gründe, nach Pontarlier zu reisen. Oder daran vorbei.

von Hans Fässler *)

Am 7. April 1803 starb in seiner Zelle auf Fort de Joux der Haitianer Toussaint Louverture. Hierzulande fast unbekannt, gilt er für viele als eine der bedeutendsten historischen Figuren der Neuzeit. Grund genug für eine kleine Schweizer (und auch St. Galler) Delegation, bei den Feierlichkeiten zum 200. Todestag dabei zu sein.

Der sogenannte St. Galler „Kantonsgründer“ Karl Müller-Friedberg reiste anfangs November 1802 über Nechâtel, Fleurier und Pontarlier nach Paris, um dort als Mitglied der helvetischen Konsulta über die Zukunft der Schweiz von Napoleons Gnaden zu verhandeln. Gleich hinter der Schweizer Grenze, bei Les Verrières, verengt sich das Tal, und ein hoch aufragender Hügel mit einer furchteinflössenden Festung obendrauf schient den Weiterweg zu versperren. Dort sass in einer kleine Zelle ein Gefangener Frankreichs, der ehemalige Generalgouverneur von Saint Domingue, einer Kolonie Frankreichs, welche dem Mutterland ein Jahrhundert lang derartige Profite in Form von Zucker, Kaffe, Baumwolle und Indigo beschert hatte, dass man den westlichen Teil der Karibikinsel Hispaniola (das heutige Haiti) „die Perle der Antillen“ nannte.

Genau genommen sind in diesen Apriltagen 2003 zwei Schweizer Delegationen in Sachen Geschichte unterwegs. Der historische Verein St. Gallen fährt, wie damals Müller Friedberg, am Fort de Joux vorbei nach Paris, um dort einige Tage lang auf den Spuren der Kantonsgründung zu wandeln. Die Bildungsreise ist ausgebucht, denn offenbar hat es sich langsam herumgesprochen, was am 19. Februar 2003 in der „Allocution de M. Peter SCHÖNENBERGER, Landamman de Saint-Gall, au nom des cantons présents“ gesagt wurde, dass wir alle „irgendwie“ (Schönenberger) unsere Wurzeln in Paris haben. „Roots“ à la saint-galloise...

Die zweite Delegation ist nicht ausgebucht. Einer muss ins Spital, einer muss arbeiten und einer seine Grossmutter besuchen. So verbleiben ein Buchhändler, ein Historiker, ein Provinzkabarettist, seine zwei Söhne und ein Schulkollege, eine Englischlehrerin und Familienfrau und eine Ethnologiestudentin. Alle wollen sie nach Pontarlier und aufs Fort de Joux, um an den Feierlichkeiten zum 200. Todestag von Toussaint Louverture teilzunehmen.



Toussaint Louvertures Vater soll ein Häuptling oder König gewesen sein und wurde als Sklave von Afrika (aus der Region des heutigen Benin) nach Saint Domingue verfrachtet. So funktionierte der sogenannte „Dreieckshandel“: billige Textilien und Krimskrams, Gebrauchsgüter, Waffen und Alkohol von Europa nach Afrika, Tausch gegen schwarze Sklavinnen und Sklaven, Fahrt über den Atlantik in die „Neue Welt“ und Eintausch gegen Kolonialprodukte, welche auf Plantagen mit Sklavenarbeit produziert und schliesslich nach Europa transportiert wurden. Auf einer solchen Plantage wurde Toussaint Louverture 1743 auf Saint Domingue geboren. Bis 1776 lebte und arbeitete er auf der Plantage „Breda“, welche ihm auch seine vorrevolutionären Namen gab: François Domnique Breda.


Als der Strom des indianischen Schweisses plötzlich versiegt war unter der Sonne/ Als der Goldrausch auf den Markt schwemmte den letzten Trofen Indianerblut/ So dass kein einziger Indio verblieb in Reichweite der Goldgruben/ Wandte man sich dem Muskelfluss Afrika zu.
[René Depestre: Minerai noir]


1776 ist ein einprägsames Jahr. Wenn ich zehn historische Jahrzahlen auf eine einsame Insel mitnehmen könnte, es wäre dabei. 1776 beginnt mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die atlantische Revolution, welche 1789 dann auf Europa übergreift. 1776 beginnt mit Watt und Boulton die kommerzielle Nutzung der Dampfkraft, welche dann zur Industrialiserung und zur eruopäisch-amerikanischenen Dominanz über die ganze Erde führt (eine grosser Teil des Geldes für die Entwicklung der Dampfmaschine kam übrigens aus Kreisen englischer Plantagenbesitzer aus den „West Indies“). Und 1776 wird Toussaint von seinem Meister freigelassen.

In Pontarlier stellt es sich heraus, dass die Sache mit den Feierlichkeiten (wie alles, was mit Geschichte und vor allem mit Haiti zu tun hat) reichlich kompliziert ist. Die kleine Schweizer Delegation ist von der „Société d’Histoire et de Géographie d’Haïti“ eingeladen worden, an ihrer Kranzniederlegung am Vormittag beim Toussaint-Louverture-Denkmal dabei zu sein. Die rund 20 haitianischen Männer, Frauen und Kinder der 1923 gegründeten Vereinigung betrachten sich als Vertretung der haitianischen Zivilgesellschaft und wollen mit den Feierlichkeiten (organisiert durch den französischen Staat, unter der Schirmherrschaft Chiracs, und mit Beteiligung der haitianische Regierung) nichts zu tun haben.

1791 greift Toussaint ins politische Geschehen ein: Die französische Revolution hat auf die Insel übergegriffen, die schwarzen Sklaven (von denen 400’00 lediglich 40'000 Weisen gegenüberstehen) haben sich erhoben und Toussaint setzt sich an die Spitze dieser Bewegung. Er macht aus den aufständischen Sklaven eine disziplinierte schwarze Armee und spielt geschickt die Kolonialmächte Spanien, Frankreich und England gegeneinander aus. 1794 wird die Sklaverei durch den revolutionären Konvent in Paris für abgeschafft erklärt und 1797 ist Toussaint als Oberbefehlshaber der französischen Armee der Alleinherrscher über die ganze Insel.

„Es geht darum in dem Brief“, sagte Toussaint, „meine Dienste den Kommissaren anzubieten, dass sie verstehen, was meine Dienste wert sind. Dass ich keine Bande mehr hinter mir habe, sondern Soldaten, die besser und zäher sind als das Pack Kolonialsoldaten.“
[Anna Seghers, Die Hochzeit von Haiti]


Die Kranzniederlegung ist ein ergreifender politischer Akt, der auch etwas von einem Gottesdienst hat. In eisiger Kälte (derselben Kälte die Toussaint Louverture dann, gemäss Planung von Napoleon, umgebracht hat) stehen schwarze Männer und Frauen in ihren besten Kleidern, mit Tränen in den Augen, flüsternde Kinder und Jugendliche blicken hinauf zum Fort oder hinüber zum Schweizer Jura. Der Leiter der haitianischen Delegation erklärt mir nachher, man habe versucht, Nelson Mandela für die Feiern aufs Schloss zu bringen. Er wäre die richtige Persönlichkeit gewesen, weil er zusammen mit de Klerk aufgezeigt hat, was Napeoleon und Toussaint nicht geschafft haben: einen unblutigen und versöhnlichen Ausweg aus kolonialer Vergangenheit, ein Arrangement zwischen dem weissen Herrscher und dem prominenten schwarzen Gefangenen. Aber das habe nicht geklappt, wie auch Christiane Taubira leider nicht anwesend sei, die Vertreterin von Guayana in der französischen Nationversammlung. Sie hatte den Grundstein für die „Loi Taubira“ gelegt, jenen Parlamentsbeschluss, mit dem Frankreich erstmals die Sklaverei und den SklavInnenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebrandmarkt hat, allerdings in einer Formulierung, die keine Ansprüche auf Wiedergutmachung ableiten lässt.



„Saint Domingue ist das erste Land der Neuzeit, welches in seiner Realität und zum Nachdenken für alle Menschen und dies in seiner ganzen Komplexität, sozial, ökonomisch und nach Rassen, das grosse Problem formuliert hat, welches das 20. Jahrhundert atemlos zu lösen versucht, das Problem des Kolonialismus.
[Aimé Césaire, Toussaint Louverture]


Die offiziellen Gedenkfeierlichkeit finden im völlig überfüllten Stadttheater von Pontarlier statt und sind ein eindrückliches „Rencontre des trois mondes“: Botschafter von Burkina Faso, Benin und der Republik Kongo erweisen Toussaint ihre Reverenz, Schaupieler singen die „Marseillaise Noire“, René Depestre, der grosse haitianische Schriftsteller, hält eine Rede, ebenso wie der Bürgermeister von Pontarlier, der Präfekt der Region und der haitianische Botschafter in Frankreich. Der Ton ist respektvoll und feierlich, auch wenn sich manchmal etwas zu viel Tourismuswerbung für die Region im allgemeinen und das Schloss im besonderen hineinmischt.

Toussaint hat nach 1797 versucht, das durch Aufstand und Krieg verwüstete Land wieder aufzubauen. Die von ihm errichtete Erziehungs- und Militärdiktatur ist in der Geschichtsschreibung umstritten. Sicher aber ist, dass es Napoleon war, welcher den freiheitlichen Bestrebungen auf Saint Domingue ein Ende gesetzt hat. Als Toussaint sich 1801 zum Generalgouverneur auf Lebzeiten ernennt und dem Land eine Verfassung – im Status einer französischen Kolonie - gibt, welche die Sklaverei für immer abschafft, hat er genug. Er will die Sklaverei wieder einführen und den Mann, der ihm einmal einen Brief mit dem Titel „ du premier des Noirs au premier des Blancs“ geschrieben hat, stürzen. Sobald er durch den Friedensschluss mit England den Rücken frei hat, schickt er die grösste Seestreitmacht seiner Zeit nach Saint-Domingue. Unter den 30'000 Soldaten aus Frankreich und ganz Europa, die 1802-1803 versuchen, das Land zu unterwerfen, sind auch 600 Schweizer Soldaten.

Ich hier/ Bürger der Antillen / Mit zitternder Seele / Trachte ich neue Bastillen zu erstürmen / Ich bringe auf sonnendurchglüten Äckern / Die Ernte von Menschlichkeit ein.
[René Depestre, Me voici]


Saint-Domingue wird (scheinbar) unterworfen. Toussaint zieht sich (scheinbar) aus der Politik zurück und betreibt wieder Landwirtschaft. Die Franzosen wollen (scheinbar) mit ihm verhandeln und laden ihn zu einem Treffen ein. Toussaint geht hin, obwohl er wahrscheinlich ahnt, dass es eine Falle ist. Er wird sofort verhaftet und mit dem Schiff „Le Héros“ nach Frankreich gebracht. Die drei französischen Konsuln verfügen, dass er in einem Staatsgefängnis untergebracht wird, das soweit von Meer und von Saint-Domingue entfernt ist, wie nur möglich. So kommt er via Brest, Nantes und Besançon am 23. August 1802 auf Fort de Joux.

In 50 Jahren, wenn die Wahrheit sich Gehört verschafft hat, wird die Muse der Geschichte für die Griechen Phokion wählen, Brutus für die Römer, Hampden für die Engländer und Lafayette für die Franzosen. Sie wird George Washington nehmen als prächtigste und reinste Blume unserer entstehenden Zivilisation und John Brown als vollkommene Frucht unserer Reife, und dann wird sie ihre Feder in die Strahlen der Sonne tauchen und wird schreiben auf den klaren und blauen Himmel über uns allen den Namen des Soldaten, des Staatsmannes, des Märtyrers Toussaint Louverture.
[Wendell Philipps, Rede in Boston]


Seine Zelle, in der er am 7. April 1803 tot aufgefunden wird, ist klein, kahl und von dicken Steinmauern begrenzt. Wenn man (weiss), zusammen mit den haitianischen Freunden der „Société d’histoire et de Géographie d’Haiti“ (schwarz), vor dem Eingang steht und einem die französische Touristenführerin (weiss) aus dem Obduktionsbericht des Doktor Gresset (weiss) vorliest („Autopsie du cadavre de Toussaint Louverture pratiquée dans sa cellule le 18 Germinal an 11“), dann schlottert man, nicht nur vor Kälte. Gestorben ist er, so heisst es dort, an einer Lungenentzündung. Aber die wirklichen Todesursachen heissen (in alphabetischer Reihenfolge): Einsamkeit, europäische Kolonialpolitik, Kälte und Napoleon Bonaparte.



____________________________________________________________________
*) Hans Fässler, 1954, hat in seinem Kabarettprogramm “Louverture stirbt 1803“ für das Kantonsjubiläum die Geschichte Haitis und das Sterben von Toussaint Louverture in Beziehung gesetzt zur Gründung des Kantons St. Gallen. Auftrittsorte und –daten sowie historisches Material (v.a. zur Beziehung der Kantone SG, AR, GR, TG, SH, ZH, BE, BS, NE, VD, GE zu SklavInnenhandel und Sklaverei) finden sich unter www.louverture.ch.